Zu Besuch bei Sepp Gisler auf Oberaxen
Unsere instrumentale Volksmusik hat viele Gesichter. Wer nicht einfach nur mit den Ohren zuhört, sondern auch die Gefühlsebene mit in den Musikgenuss einbezieht, merkt bald, wo ein echter überlieferter «Zick» vorhanden ist. So geht es einem, wenn man Sepp Gisler – er wird im Urnerland und der restlichen Ländlermusikwelt einfach «Axiger Sepp» genannt – beim Örgelen zuhört.
23.09.2015 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Man taucht mehrfach und sehr rasch in eine andere Welt ein, wenn man «Axiger Sepp» in seinem hübschen und spektakulär gelegenen Heimet auf Oberaxen besucht. Schon die Anreise ist sehr speziell und vielleicht nicht jedermanns Sache. Sah man sich kurz vorher noch in der Hektik des Verkehrs auf der Autobahn und im Seelisbergtunnel, so wird man beim tonlosen, sanften Gondeln der Privatseilbahn von Flüelen nach Oberaxen auf eine wesentlich langsamere Gangart gebracht: «Slow down!» Oben begrüsst uns Sepp in gemütlichem Tempo auf sympathische und freundliche Art mit seiner sonoren, tiefen Stimme im typischen Urner Dialekt. Sofort spürt man seine Herzlichkeit und gleichzeitig die Ehrfurcht vor dem, was unsere Vorfahren geschaffen haben. Wenn er dann noch zum Örgeli greift, eröffnet er uns den Einblick in seine kugelrunde Musikwelt, in der Legenden wie Res Gwerder und die Druosbergbuäbä neu zum Leben erweckt werden.
Hoch über dem Urnersee
Hoch über den steilen Felsen am Urnersee liegt der zur Gemeinde Flüelen gehörende Weiler Oberaxen. Auf gut 1000 Metern über Meer lebt hier die Familie von Sepp Gisler, die man in der Gegend nur mit dem Übernamen «Axiger» kennt. Die darunter verlaufende Axenstrasse hat als Teil der wichtigen Nord-Südverbindung internationale Bekanntheit erlangt, weil die in den Felsen gehauene Strasse spektakulär und gefährlich war. Musste man vorher für die Reise über den Gotthard den Abschnitt zwischen Brunnen und Flüelen auf dem Seeweg oder allenfalls per Pedes über die Weiden oberhalb des Felsens – eben via Oberaxen – begehen, konnte man nach 1864 die Strasse benutzen, die seither laufend mit Steinschlaggalerien und Tunnels ausgebaut wurde. Auch über der heute modernen Strasse hat sich vieles entwickelt. Zu Sepps Bubenzeiten konnte man Oberaxen von Flüelen her nur mit einer stündigen, steilen Wanderung oder nach 1960 allenfalls mit der Seilbahn von der Station Tellsplatte (Gisikon) via Unteraxen und daran folgendem Fussmarsch erreichen. «Dieser sehr beschwerliche Weg ist denn auch der Grund dafür gewesen, dass mir schon am zweiten Tag die Schule mehr oder weniger verleidet ist», lacht Axiger Sepp mehr als 50 Jahre später. Am 23. September 1954 wurde er als jüngstes von 10 Kindern – sieben Buben und drei Mädchen – der Familie Gisler geboren. Damals wie heute ist der Bergbauernbetrieb die existentielle Grundlage. Das Heuen inklusive dem Wildheuen an den steilen Hängen oberhalb von Oberaxen bildet die zentrale Aufgabe im Sommer, und während des ganzen Jahres ist die Fleischvermarktung ein Thema. Die momentan fünfzehn Kühe und fünfzehn Kälber versorgt Sepp in Mutterkuhhaltung. Er war vor 23 Jahren einer der ersten in der Gegend, der auf diese Betriebsart umgestellt hat. Als Axiger Sepp den Vorschriften folgend seinen Gaden umbauen musste, stellte er dafür eine Materialseilbahn auf. 1998 konnte er diese auch für Personen konzessionieren lassen, was seither den Zugang wesentlich erleichtert. Sepp ist seit 1979 mit Pia verheiratet. Sie haben vier Mädchen und zwei Buben, wobei die erwachsenen Töchter mittlerweile nicht mehr zuhause leben.
Musig von Res
Sepps Liebe zur Volksmusik begründet sich in einem Radio mit integriertem Plattenspieler, auf welchem an Sonntagen stundenlang die Singleplatten der Ende der 1950er- sowie in den 1960er-Jahren aktuellen Kapellen gespielt wurden. Besonders angetan hatte es der Familie die Musik von Res Gwerder und der Druosbergbüäbä. Sepp erinnert sich noch, mit welcher Begeisterung und Hochachtung vor diesen Musikanten er vor dem Radio sass und dachte: «Nai, we mä so ainä ainisch richtig gsäch oder sogar gherti!» Echte Musikanten kannte er höchstens vom Schwingfest her, dass jeweils vor ihrem Haus stattfand. Sein Bruder hatte eine Schwyzerorgel, die beim Ausklang solcher Anlässe zum Einsatz kam und danach noch einige Tage im Haus aufbewahrt wurde. Natürlich reizte es Sepp schon damals, auf dieser Orgel «z trickä», was ihm seine Mutter aber explizit verbot!
Nach der Schulzeit arbeitete er im Sommer zuhause und im Winter nahm er diverse Stellen beispielsweise auf dem Bau, in der Schuhfabrik oder am Skilift auf dem Stoss an. Dort kam er zunehmend in Kontakt mit Musikanten. Als er 17 Jahre alt war, kaufte ihm seine Mutter dann doch noch eine Handorgel. Allerdings war das eine diatonische Kluborgel, auf welcher er seine Lieblingstänze nicht umsetzen konnte. Er konnte das Instrument dann zwar eintauschen, bekam aber dafür eine Schwyzerorgel, die nicht mehr spielbar war. Erst ein Jahr später konnte er bei Martin Nauer eine 60-bässige Eichhorn kaufen, auf welcher er nun sehr eifrig übte. Da er die Tänze ab Kassette oder Platte lernen musste – er hatte keinerlei Unterricht – übernahm er automatisch nicht nur die Töne selber, sondern auch die Spielweise seiner Vorbilder. «Ich erkannte schnell, dass ein richtiger Takt und die gute Tempowahl wohl die wichtigsten Dinge für gute Musik sind», sagt er denn auch. Für das Musizieren gab es für ihn keine Müdigkeit. Auch nach Tagen, die mit Wildheuen sehr streng waren, hörte man am Abend noch sein Örgeli im Haus. «Besonders habe ich aber auch die Regentage begrüsst», sagt er augenzwinkernd. Im Winter 1979 traute er sich dann endlich, mit Res Gwerder Kontakt aufzunehmen. Beim Besuch wurde natürlich sofort auch musiziert. Als Res merkte, dass der junge Musikant diese und jene Tänze aus seinem Repertoire beherrschte und auch den Musikdialekt exakt wiedergeben konnte, engagierte er ihn spontan am folgenden Samstag zu einem Auftritt. «Ich habe dann schon noch gelitten, denn Res kannte noch viele Tänze, die ich noch nie gehört hatte!» Sepp trat dann noch hie und da mit Res Gwerder auf, spielte damals jedoch vor allem mit Kollegen aus seinem nahen Umfeld und mit dem Örgeler Franzsepp Ziegler und dem Bassgeiger Kari Ziegler in der Kapelle Echo vom Franzenstock. Im Nachhinein resumiert er, dass er sicher zu spät mit Musizieren begonnen habe. Wichtig aber sei für ihn der Kontakt zu den Schwyzer Musikanten gewesen, mit welchen er sich dann immer mehr austauschen konnte.
Zu einem folgenschweren Zusammentreffen kam es 1998 anlässlich des Besuchs eines Konzerts in der Schützenmatt in Altdorf. Dort traf Axiger Sepp den Schachä Ruedy aus dem Unteriberg, einen der legendären Druosbärgbüebä. Die beiden kannten sich nur flüchtig, wussten aber voneinander, dass sie die gleichen Leidenschaften punkto Ländlermusik hatten. Da gerade ein Auftritt an einem Geburtstagsfest anstand, machten sie miteinander ab und riefen auch noch den Basszieher» Lehmatter Hans dazu. Das war die Geburtsstunde des Schwyzerörgeliduos Axiger Sepp – Schächä Ruedy, welches seither in der Schwyzerörgeliszene des ganzen Landes Komplimente für das echte, präzise und lüpfige Örgelispiel erhält und mit seiner tänzigen Musik natürlich gerne zu allerlei Festivitäten engagiert wird. «Dass ich seither mit Ruedi – einem weiteren meiner Vorbilder – musizieren darf, ist für mich eine Ehre und eine Riesenfreude», betont Sepp. Auftritte an Grossanlässen, am Älplerwunschkonzert auf dem Urnerboden, an vielen Bauerbällen und Chilbinen und mittlerweile zwei CD-Produktionen sind Zeugen sowohl einer tollen Musikerkarriere wie auch der freundschaftlichen Kontakte innerhalb der nun schon bald zwei Jahrzehnte alten Formation. Der Weg von Unteriberg nach Oberaxen ist nicht einfach. Bei Gelegenheiten kommt es aber dennoch vor, dass Sepp und Ruedy noch zusammen üben und so die Feinheiten des urchigen Zusammenspiels miteinander herauskitzeln. Eigene Kompositionen brauchen sie dazu kaum. Vielmehr widmen sie sich der Erhaltung der altüberlieferten Melodien, von denen gerade die Innerschweizer Örgeliszene eine riesige Fülle hat.
Treffpunkt Oberaxen
Mittlerweile ist Oberaxen mit dem gleich neben der Seilbahn liegenden Restaurant zu einem Treffpunkt für Liebhaber der runden Örgelimusik geworden. Nebst vielen anderen bekannten Grössen der einschlägigen Szene ist zu Lebzeiten auch Sepps grosses Vorbild Res Gwerder hier eingekehrt. Dass hier die runde, eingängige und gemütliche Örgelimusik ein Zuhause hat, ist sicher der Leidenschaft von Axiger Sepp zu verdanken. Ein Besuch nach einer eindrücklichen Höhenwanderung oder luftigen Seilbahnfahrt lohnt sich allemal auch ohne Örgeli!