30 Jahre später
Jahre nach seinen vier Dokumentarfilmen über den Muotatlaer Naturjuuz, die der in Frankreich lebende Schweizer Musikethnologe Hugo Zemp gedreht hat, zeigt dieser neue Film die heutige Situation der eigenartigen lokalen Überlieferung. Der siebenjährige Bub, der damals mit seinen Eltern und Geschwistern juuzte, ist jetzt 37 Jahre alt. Wie viele junge Leute interessierte er sich im Jugendalter für amerikanische Musik und wurde ein Rock- und Country-Sänger, was er immer noch ist. Aber es drängt ihn auch zurück zur lokalen Tradition, zum Juuz.
Das Muotatal ist einzigartig, in vielerlei Hinsicht. Ein Schweizer Panoptikum, das kaum zu übertreffen ist! Das grandiose Karstgebiet Silberen, das Hölloch oder die Glattalp mit rekordverdächtigen Minustemperaturen gehören etwa dazu. Auch der Bödmerenwald, der grösste Urwald des Alpenraums, sowie die mystischen Naturlandschaften der Seitentäler faszinieren. Ebenso einzigartig sind auch die Bewohner mit ihrer träfen und urchigen Sprache sowie ihrer kantigen und doch liebenswerten Art. Ein Bereich charakterisiert das Muotatal zusätzlich und besonders: der Naturjuuz.
Im Muotatal wird eine Form des Naturjuuzes gepflegt, wie sie so wohl nirgendwo sonst mehr anzutreffen ist. Dem hat sich auch die Formation «Natur pur» mit ganzem Herzen verschrieben. Ursprung und Alter der Melodien sind nicht zu ergründen, es haben sich jedoch über die Zeit hinweg mehrere Besonderheiten entwickelt und gehalten. Dazu gehört sicher das ab und zu auftretende Alphorn-Fa, aber auch die neutrale Intonation der 3. und 7. Stufe, also der Terz und der Septime. Dies ergibt beim mehrstimmigen Singen ungewohnte, für unsere Ohren dissonant klingende Intervalle. Die wohltemperierte Stimmung – wie sie heute auf fast allen Instrumenten üblich ist – drängt die überlieferte Singweise aber mehr und mehr zurück.
Allgemein kann auch gesagt werden, dass man zum Teil bewusst nicht das «schöne» Singen pflegt, sondern Ausdruck und Individualität ins Zentrum stellt – so wie dies bereits alte Tondokumente belegen. Der Stil ist nicht geschliffen, die Töne sind mal erdig, mal wild. Auch deswegen klingen ihre Muotataler Jüüzli für das unvertraute Ohr zuerst einmal kantig, rau, mitunter überraschend anders. Hier findet sich keine übertriebene Geschmeidigkeit, kein bloß gefälliger Wohlklang. Man glaubt, den Ursprung des Juuzes in der freien Natur, beim Arbeiten auf Weide und Alp zu hören. Hört man länger zu, erschliesst sich eine Klangwelt ganz eigener Prägung, reich an anspruchsvollen Figuren. Es sind Klänge, die den stolzen und eigensinnigen Charakter der Menschen in diesem Tal erahnen lassen.
Im Jahr 2007 gründeten sechs junge Männer die Gruppe Natur pur. Der Dokumentarfilm von Hugo Zemp zeigt die Gruppe beim Juuzen im geselligen Zusammensein und im Gespräch über Tradition und Wandel. Raymond Ammann von der Hochschule Luzern-Musik schreibt dazu: «Ein Film – weit weg vom Alpenglühen-Klischee, der gerade durch seine ungekünstelten und realistischen Bilder ans Herz geht. Dieser lehrreiche Film von Hugo Zemp mit seiner schlichten aber gefühlvollen Sprache ist speziell: Durch Einblendungen von Filmaufnahmen, die der Filmemacher vor 30 Jahren zum selben Thema und am selben Ort machte, gelingt es ihm, die Entwicklung einer lokalen Musikkultur aufzuzeigen. Der Film kann somit als eine Fallstudie eines Versuchs der Wiederbelebung von Traditionen verstanden werden, die hier aufgrund der Initiative von engagierten Privatpersonen und des frühen Filmmaterials von Hugo Zemp auf wunderbare Weise gelungen ist.»