Jugendfest der Bündner Hauptstadt
Wie die Zürcher das Sechseläuten oder die St. Galler ihr Kinderfest feiern, machen die Churer Schulen im Frühling seit etwa 170 Jahren die Maiensässfahrt. Ganz Chur ist schon am Morgen früh auf den Beinen, wenn die Kinder zu ihrer Wanderung auf die umliegenden Maiensässe starten. Ende Mai ist es auch in diesem Jahr wieder soweit.
22.03.2016 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Ein Ausflug wurde im 19. Jahrhundert eine Ausfahrt genannt, was also noch nichts mit Fahren im heutigen Sinn zu tun hatte. Die gleiche Verwendung des Begriffs finden wir ja auch beim Wort Alpfahrt. Und noch heute ist die Churer Maiensässfahrt zunächst ein Wandertag für alle Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrerinnen und Lehrer der Stadt Chur. Das gemeinsame «Zufuss-Gehen» hat in der heutigen Zeit eine andere Bedeutung als damals, als man auch grössere Strecken nicht mit dem Bus, sondern per Pedes bewältigte. So ist auch das eine sinnvolle Facette des traditionellen Anlasses, der sich in den Grundsätzen seit seinen Anfängen kaum verändert hat.
Auf die Maiensässe
In der klassischen Dreistufenwirtschaft der Bergbauern waren die Maiensässe jene Zwischenstation, in welchen sie mit ihrem Vieh im Frühling vor dem Aufenthalt auf der Hochalp und im Herbst vor dem gänzlichen Rückzug in die Talwirtschaft lebten. Rings um die Bündner Kantonshauptstadt gibt es einige Maiensässe sowohl am Mittenberg östlich, als auch am Pizoggel (Brambrüesch) südlich der Stadt. Besonders im Frühling erfreuten die saftigen Wiesen auf ungefähr 1500 Metern über Meer Vieh und Mensch gleichermassen. Um 1850 fasste die Churer Schulbehörde den weisen Entschluss, ihre Jugend mit einem jährlich stattfindenden Ausflug in die Maiensässe zusätzlich zu erheitern und so für das weitere Schuljahr zu motivieren. Mit wenigen wetterbedingten Ausnahmen fand der Anlass seither jedes Jahr statt und wurde zu einem Volksfest für die Churer Bevölkerung. Das Bewusstsein, dass schon einige Generationen diesen Tag genau gleich erlebten, mag einen gewissen Heimatstolz in den jungen Menschen aufkommen lassen, bei den Älteren zumindest viele Erinnerungen wecken und bei einigen auch etwas Wehmut mitklingen lassen.
Früh am Morgen
Für einmal haben die Schülerinnen und Schüler keine Mühe, bereits am frühen Morgen aus dem Bett zu steigen. Schon Tage vorher haben sie darauf gehofft, dass das Wetter gut sei. Mit dem Picknick im Rucksack versammeln sie sich in der Churer Altstadt bei ihren Schulklassen, um dann um sieben Uhr in Richtung der Maiensässe loszumarschieren. Begleitet wird der Auszug durchs Obertor durch die Tambouren und die Kadettenmusik, welche in den frühen Morgenstunden in Churs Gassen eine fast mystische Atmosphäre erzeugen. Die Ziele sind den Altersklassen angepasst. Das Maiensäss am Mittenberg wird von den Erst- und Zweitklässlern angepeilt, zu den etwas höher gelegenen Bergweiden auf Brambrüesch (Fülian, Nadig und Wisshütte) wandern die dritten bis sechsten Klassen und auf den höchsten Ort Juchs schliesslich die Buben und Mädchen der Sekundarstufe. Alle Strecken werden dabei natürlich zu Fuss bewältigt, was von den Lehrerinnen und Lehrern zusätzliche Aufmerksamkeit erfordert. Zu neue Schuhe und damit verbundene Blasen an den Füssen, da und dort ein Stolpern oder ganz einfach fehlende Kondition führen zu notwendigen Pausen und auch zu Einsätzen der mitlaufenden Sanitätsleute. Damit auch verletzte Kinder am Tag auf den Maiensässen teilnehmen können, besteht sogar ein Transportdienst. Spätestens zwischen zehn und elf Uhr erreichen alle ihre Ziele, wo bereits gewisse Vorbereitungen getroffen wurden.
In früheren Jahren wurde Milch und Tee ausgeschenkt; eine Bemühung, die sich heute aufgrund der modernen Getränke und Nahrung nicht mehr aufdrängt. «Man darf sich auch nicht vorstellen, dass auf der Alp nun ein vorbereitetes Programm mit Spiel und Spass abläuft. Programm ist ‹das Maiensäss allein› und auch die heutigen Kinder haben genügend Fantasie, spontane Ideen umzusetzen», sagt Fabio Cantoni von der Stabsstelle der Geschäftsleitung der Churer Schulen. Zunächst im Schulalter und dann als Lehrer hat er selber schon 35 Maiensässfahrten miterlebt, «und ich freu mi hüt no uf die Nöchschti», lacht er.
Einzug in die Stadt
Nach dem gemütlichen und vergnüglichen Nachmittag marschiert die Schar dann wieder zurück, um rechtzeitig für die Abschlussanlässe in der Stadt bereit zu sein. Bereits 1854 war von einem Umzug die Rede, dem ein Musikkorps vorausmarschierte. Die Schüler hatten sich am Nachmittag mit Blumenkränzen und -körbchen, Laubwerk, Tannenästen und -zapfen und mit holzkohlengeschwärzten Gesichtern zu Naturwesen verwandelt und zeigten ihre Freude dem zahlreich am Strassenrand stehenden Publikum. Das passte damals nicht allen Gesellschaftshütern. In einem Protokoll vom 1. Juni 1867 wurde festgelegt, dass alle Verkleidungen, Verschmierungen des Gesichts und das Tragen von Masken untersagt seien. Auch in den Folgejahren wurde immer wieder zur Ordnung gerufen, was darauf schliessen lässt, dass sich die Schulklassen nicht daran halten wollten. Letztlich liess sich die Schulleitung erweichen, aber nicht ohne dazu aufzurufen, sich nur mit anständigen Kostümen zu verkleiden. So gilt das Jahr 1885 als Geburtsjahr der kostümierten Umzüge. Der Übergang vom bunten Durcheinander zum heutigen, thematisch vorgegebenen Umzug vollzog sich in den 1920er-Jahren.
Chur im Ausnahmezustand
Diese kostümierten Umzüge finden seit 1974 alle drei Jahre statt. Die Dimensionen sind riesig. In diesem Jahr werden 1’605 Kinder der Primarstufe und 706 Jugendliche der Sekundarstufe teilnehmen. Hinzu kommen am Abend noch zusätzliche Umzugsteilnehmende, wie die Kinder des Schulheims, die Mitglieder der Musikgesellschaften und des Handorgelklubs. Und alle werden von ihren Angehörigen und der Churer Bevölkerung am Strassenrand bejubelt. Chur im Ausnahmezustand! Um 19 Uhr startet der Zug auf dem Martinsplatz mitten in der Altstadt, der sich dann via Post- und Grabenstrasse zunächst in Richtung Masans und schliesslich zurück zur Quaderwiese bewegt. Dort horcht man der den Kindern angepassten Rede einer auserwählten Lehrperson – früher war es immer der Rektor – und schliesslich singt man vereint das Churer Maiensässlied und das Stadtlied. 1925 haben die zwei ehemaligen Churer Professoren Dr. Martin Schmid und Wilhelm Steiner das Maiensässlied geschaffen, das mittlerweile zur Churer Nationalhymne avanciert ist. Jede Churerin und jeder Churer kann dieses Lied singen. Man kann angesichts des bald hundertjährigen Textes annehmen, dass es nicht die Worte allein sind, welche die heutigen Generationen derart ergreifen. Vielmehr werden die Erinnerungen der Älteren oder das Bewusstsein der Kinder, selber, wie die Eltern und Grosseltern an diesem Anlass dabei zu sein, die Emotionen wecken. Sie spüren das ganz besondere Zusammengehörigkeitsgefühl, das an allen Traditionsanlässen gegenwärtig ist. Nicht zu überbietender Höhepunkt des Schlussanlasses ist dann aber der von allen erwartete Schlussausruf vom Rednerpult: «Moora isch schualfrei!»
«Moora isch schualfrei!»
In diesem Jahr wurde der Anlass auf den 24. Mai festgelegt und es wird ein kostümierter Umzug mit dem Thema «Churer Spezialitäten» stattfinden. Sollte das Wetter die Durchführung nicht zulassen, sind acht weitere Daten bis zum 9. Juni als mögliche Verschiebetermine für die diesjährige Churer Maiensässfahrt vorgesehen.
Churer Maiensässlied
Stiller Berg du lieber Wald,
hoher Freude Hallen!
Unser Jubelruf erschallt,
wenn wir bergwärts wallen.
Wo die Anemonen blühn,
dunkle Alpenrosen glühn,
unsre Augen schauen, schauen,
in der Tiefe Blauen!
Heimatland, du grüner Port,
wo die Quellen rauschen,
unsrer Jugend goldner Hort,
lehr und stille lauschen!
Wenn die frohen Tage gehen,
wenn die Freuden kühl verwehn,
lass uns leis das Herz befragen
nach der Jugend Tagen.