Die einstige Rösti-Musig aus St. Stephan
Der 85-jährige Gottfried Rösti aus St. Stephan konnte die Klänge der Rösti-Musig nie vergessen, die ihn in jungen Jahren derart beeindruckt hatten. Nachdem er unlängst erfuhr, dass ein Teil des nostalgischen Notenmaterials seiner Vorfahren sogar in der umfangreichen Hanny-Christen-Sammlung verewigt worden ist, soll die verklungene Musiktradition nun auch akustisch nochmals neu aufleben.
23.11.2016 | VON STEFAN SCHWARZ
Schon viele Jahre bevor sich im Schweizerland die heute gängigen Ländlermusikstilrichtungen etablierten oder die ersten Musikgesellschaften und Jodlerklubs gegründet worden sind, wurde landauf und landab gerne musiziert und gesungen. Die Basis dieser musikalischen Aktivitäten war meist der eigene Familienkreis, wo man sich jener Instrumente bediente, die halt gerade zur Verfügung standen. In alten Zeiten waren das vorab Streichinstrumente, welche vor dem Einsatz von Klarinetten, Handorgeln oder Schwyzerörgeli sowohl als Melodie,- als auch als Begleitinstrumente eingesetzt worden sind.
«E chli zäme gigne»
Die Geige als melodieführendes Instrument wie auch die komplette Streichmusik kennt man heute fast nur noch in der appenzellischen Volksmusik. Dass Streichinstrumente einst aber auch im bernischen Obersimmental zur einheimischen Musiktradition gehörten, kann bis heute der Umgangssprache von traditionsbewussten Ländlermusikanten entnommen werden. Wenn sich diese zum gemeinsamen Musizieren treffen oder zu einen Auftritt ausrücken, dann gehen sie «zäme ga gigne». Und das obschon in diese Region längst nur noch der Kontrabass besagter Instrumentenkategorie zugeordnet werden kann.
Der heute 85-jährige Gottfried Rösti aus St. Stephan hat sich ein Leben lang voller Ehrfurcht mit der musikalischen Tradition seiner Vorfahren auseinandergesetzt und kennt diese Ausdrucksweise selbstverständlich auch noch. So weiss er, dass bereits sein Ur-Grossvater Jakob Rösti Anfang des 18. Jahrhunderts ein hervorragender Geiger gewesen sein soll und mit seiner Familie erfolgreich in einer Streichmusikbesetzung auftrat. Viele Informationen von damals konnte der rüstige Rentner den Aufzeichnungen und Tonaufnahmen der legendären Volkskundlerin Hanny Christen (1899-1976) entnehmen, welche sich ab 1950 mehrmals im Obersimmental aufhielt und dort überliefertes Melodiengut aus verschiedenen Volksmusikfamilien für sich und die Nachwelt aufzeichnete. In einer Tonbandaufnahme von 1955 hört man die quirlige Sammlerin aus dem Baselbiet im Gespräch mit Gottfried Rösti senior (1884-1976), der auch die zweite Generation der Rösti-Musikantendynastie erwähnte: «Mein Vater hiess Samuel (1838-1921) und war wie mein Grossvater ein guter Geiger. Er ehelichte die Adelbodnerin Maria Josi. Sie spielte Kontrabass. Ich lernte auch Geige und später sogar Klarinette spielen und meine Schwestern Rosette und Marianni haben in unserer Familienkapelle mit ihren Geigen ‹sekundonnderet›». Damit meinte Gottfried Rösti senior den in der Volksmusik noch heute gängigen Begriff «sekundieren», was soviel wie das Nachschlag-Spiel der Begleitinstrumente bedeutet.
Ein willkommener Zustupf
Dem alten Interview von 1955 kann auch entnommen werden, dass zu jener Zeit nicht nur aus reiner Freude, sondern auch aus Armut und Existenzangst musiziert und gesungen worden ist. «Di si für ne Füfliber ga musige a Hochzyte u Familiefeschtleni», berichtet Gottfried Rösti junior und weiss aus den Erzählungen seines Vaters, dass manchmal nur dank diesem finanziellen Zustupf ein Brot gekauft werden konnte. Nachdem sich seine Grosseltern Samuel und Maria Rösti-Josi altershalber von der Musikantenbühne verabschieden mussten, bildete Gottfried Rösti senior jene Rösti-Musig von welcher in den Aufzeichnungen von Hanny Christen hauptsächlich die Rede ist. Mittlerweile mit der Klarinette musizierte der Landwirt zusammen mit dem Militärtrompeter Jakob «Köbi» Zeller an Cornet und Trompete, Samuel «Sämel» Rösti» an der Handorgel und dem gleichnamigen «Sameli» Rösti, welcher mit Grossmutters Bass spielte.
Gottfried Rösti junior bekommt leuchtende Augen, wenn er sich an jene Klänge erinnert, die ihn als kleiner Bub dermassen beeindruckt hatten. Er erzählt, wie er jeweils abends im Bett mitbekam, wenn die Rösti-Musig in der Wohnstube fleissig übte oder dass er als 6-jähriger Jüngling an einem Fasnachts-Sonntag erstmals einen öffentlichen Auftritt im Saal des Hotels Stöckli miterleben durfte. Gemäss den Aufzeichnungen von Hanny Christen beinhaltete das damals gespielte Repertoire vorab überlieferte Liedli, Jützli und Tänzli, welche teilweise sogar von der ersten Rösti-Musikgeneration interpretiert worden sind. Aber auch die jüngeren, handschriftlich festgehaltenen Noten in den längst vergilbten Büchlein umfassen neben eigenem Melodiengut mehrheitlich Musikstücke, die den Interpreten im Laufe der Jahre einmal zugetragen worden sind. Stolz zeigt Gottfried Rösti den bestens gehüteten Notenschatz, in welchem dazwischen auch noch einige Einzelstimmen aus dem Archiv der Musikgesellschaft St. Stephan zu finden sind, in welcher Gottfried senior ebenfalls viele Jahre mitspielte.
Ein ganz anderes Umfeld
Zu Zeiten der Rösti-Musig sah der Alltag im Obersimmental noch ganz anders aus als heute. Der schmale Fuhrweg von Spiez her war nicht geteert, wurde nur selten von der Postkutsche befahren und diente zwischen Zweisimmen und Lenk sogar als Strecke für legendäre Velorennen. Die ersten Automobile kündigten knatternd und mit einer grossen Staubwolke den ersten «Fremdenverkehr» mit Gästen des Bad Lenk an und vor der Elekrifizierung erhellte man Stall und Wohnstube noch mit Karbit-Laternen. Die Bevölkerung war zu Fuss oder mit Velos unterwegs und lebte vor allem von der Berglandwirtschaft und betätigte sich in handwerklichen Berufen wie Wagner, Sattler oder Dachdecker. Unter diesen Vorzeichen unterschied sich auch die Nebenbeschäftigung der Musikanten. Gottfried Rösti beschrieb es Hanny Christen seinerzeit wie folgt: «Im ganzen Simmental gab es kaum eine Wirtschaft, wo wir nicht aufgespielt haben. Wir musizierten
auch im Saanenland oder ennet dem Jaunpass. Da wir kein eigenes Fuhrwerk hatten, liehen wir Ross und Schlitten aus, setzten uns auf zwei Holzkisten, legten Decken über unsere Knie und zogen auch bei grimmigster Winterkälte los».
Aufgrund der zwei verfrühten und völlig unerwarteten Todesfälle des Handörgelers und des Bassgeigers musste die viel gefragte Rösti-Musig Anfang der 1940er-Jahre mangels passender Musikanten leider stillgelegt werden. Mit der Organistin Hildi Bringold bei Feiern in der Kirche, in der Dorfmusik oder auch für sich alleine musizierte Gottfried Rösti aber noch bis ins hohe Alter weiter. Sein Sohn berichtet wehmütig: «Mi Papa het bis 82-jehrig im Schafsattel obna albe ds C-Klarinettli us em Rücksack gno u Lieder u Jödeleni gspilt».
Rösti-Musig in neuem Glanz
In der wachen Erinnerung des heute 85-jährigen Gottfried Rösti junior sind die einstige Rösti-Musig mit ihren gesungenen und gespielten Melodien sowie Vaters Klarinetten-Soli nie ganz verklungen. Zufällig erfuhr er in diesem Sommer vom einheimischen Volksmusikliebhaber und
Alt-Lehrer Beat Radelfinger, dass in
Folge der damaligen Besche von Hanny Christen aus deren Nachlass in der im Jahr 2002 veröffentlichten «Schweizer Volksmusik Sammlung» ganze 46 Seiten der einstigen Rösti-Musig gewidmet sind. Der Rentner, der ohne jegliche Notenkenntnisse nach den Anfängen auf dem Bockhorn und der Klarinette später als Büchel- und Alphornbläser bei unzähligen Festivitäten im Obersimmental selber als Musikant aktiv war, wurde nochmals so richtig vom nostalgischen Rösti-Musig-Fieber gepackt. Er übergab sein wertvolles «Notetrücki» dem Klarinettler Stefan Schwarz und bat ihn, aus diesem Fundus eine klingende Erinnerung an die gute alte Zeit zu realisieren. Der Musikredaktor und -produzent mit eigenen Wurzeln im Obersimmental fing ebenfalls Feuer für das nostalgische Projekt und begann, das Notenmaterial zu durchforsten und die passenden Mitstreiter für Tonaufnahmen zu suchen. Zusammen mit seinem langjährigen Musik- und Geschäftspartner Hanspeter Eggenberger (Akkordeon), dem erfahrenen Blechbläser Martin Lüthi (Cornet, Flügelhorn) sowie der Jodlerin und Sängerin Renate Lüthi und deren Gesangspartner Daniel Glücki werden derzeit für eine CD-Produktion
sieben ausgewählte Tänzli, zwei Klarinetten-Soli und vier Liedli im Stil von Gottfried Rösti senior und dessen einstiger Rösti-Musig aufgenommen. Auf der abwechslungsreichen Nostalgie-Scheibe, welche im ersten Quartal 2017 veröffentlicht werden soll, ist mit einigen klingenden Müsterli auch Gottfried Rösti junior als Initiant des Projektes zu hören. Trotz seiner 85 Jahre spielt er in erstaunlicher Qualität noch täglich Büchel und Alphorn und jützlet mit seiner klaren Männerstimme für einmal nicht nur zuhause vor dem Haus beim Holzspalten. Für Gottfried Rösti erfüllt sich mit diesem Projekt ein lange gehegtes Lebensziel, von welchem er mit seiner Ehefrau Erika all die Jahre still und heimlich geträumt hatte. Vielleicht soll ihn die aktuelle Auferstehung der Rösti-Musig auch ein wenig darüber hinweg trösten, dass er und seine Geschwister wegen fehlender Notenkenntnisse und des damals noch jungen Alters die Familienkapelle seinerzeit nicht aktiv fortführen konnten.
Musik der 5. und 6. Generation
Während sich Gottfried Rösti in nostalgischer Art und Weise gerne an die alten Zeiten zurück erinnert, sind seine Nachkommen heute anderweitig musikalisch aktiv. Die drei Söhne Peter, Christoph (beide 1966) und Beat (1968) sind allesamt äusserst aktive Mitglieder im bekannten Jodlerklub St. Stephan, und Christoph mit Ehefrau Marlies und den beiden älteren Kindern engagieren sich zudem auch noch in der Musikgesellschaft St. Stephan. Damit ist ganz unabhängig des einstigen Klangbildes der Rösti-Musig sichergestellt, dass der Name «Rösti» in der Obersimmentaler Gemeinde St. Stephan weiterhin mit dem klingenden Begriff «Musik» verbunden bleibt.
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Gottfried Rösti
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