Waldlochbabi, Bättlerchuchi und rote Hunde
Manche Schweizer Landschaft kennt man oftmals eher wegen den Verkehrs-meldungen. Man rast auf der Autobahn hindurch und die landschaftlichen Schönheiten bleiben verborgen. Eindeutig dazu zählt das Bipperamt, wo sich seit einigen Jahren auch ein interessanter Sagenweg befindet.
24.05.2016 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Zu den regelmässigen Staumeldungen auf der Autobahn gehören jene in der Region Oensingen, Niederbipp und Wangen an der Aare. Wer dort einmal stehen bleibt, erkennt die nahen Höhen der ersten Jurakette. Oftmals vom Wald verdeckt, kann man vom Auto aus die Besonderheiten und die Naturschönheiten kaum erkennen. Die Region «Bipperamt», zu welcher die Gemeinden Attiswil, Farnern, Niederbipp, Oberbipp, Rumisberg, Wiedlisbach und Wolfisberg gehören, ist Teil des Oberaargaus, dem nordöstlichsten Teil des Kantons Bern. Zentren des Oberaargaus sind an der Bahnlinie die Stadt Langenthal und das Dorf Herzogenbuchsee sowie an der Aare die historischen Städtchen Wangen und Aarwangen. Dass dieser Berner Kantonsteil noch Oberaargau heisst, hat historische Hintergründe. Im 15. Jahrhundert erwarb und eroberte Bern den gesamten Ober- und Unteraargau (Berner Aargau), so dass diese Regionen über mehrere Jahrhunderte geeint blieben. Mit der Übernahme der Landgrafschaft Burgund von Neu-Kyburg kam auch die Landeshoheit an die Stadt Bern. Mit dem Untergang des Alten Bern 1798 wurde der Unteraargau als eigener Kanton abgetrennt. Die Grenze zwischen Unter- und Oberaargau wurde 1798 entlang der Wigger gezogen, 1802 wurde sie aber nach Westen an die Murg verlegt. Diese Gebietseinteilung wurde durch die Mediationsakte von 1803 und den Wiener Kongress 1815 bestätigt, so dass seither der Oberaargau vom Kanton Aargau getrennt ist. Seit dem Bau der Autobahn hat sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung nach Norden, an den Jurasüdfuss verlagert, wo sich das Städtchen Wiedlisbach und die Dörfer Ober- und Niederbipp befinden. Das Bipperamt ist durch seine weiten landwirtschaftlichen Ebenen auf unverkennbare Weise geprägt. Unzählige Flurwege laden hier zum Verweilen ein. Der Jura mit seiner ersten Kette bietet spannende Ausflugsziele über der Nebelgrenze an und wartet mit atemberaubenden Aussichtspunkten auf Mittelland und Alpen auf. Hier findet man aber auch ein dichtes Wanderwegnetz und seit einem Jahrzehnt den Sagenweg.
Erste Gedanken
Die oberen Regionen des Jurasüdhanges sind besonders in den nebligen Herbsttagen ein beliebtes Ziel für jene, die dem alltäglichen Grau entfliehen wollen. Oben erwartet sie nicht nur die Sicht auf das grosse Nebelmeer im Mittelland, sondern auch eine atemberaubende Sicht auf den ganzen Alpenkranz vom Alpstein im Osten bis zum Moléson im Westen. Die Einheimischen sagen dem Jura «Berg». Im Bipperamt liegen dort die drei Berggemeinden Rumisberg, Farnern und Wolfisberg. Weil man einerseits die Gäste vom Tal gerne willkommen heisst, auf der anderen Seite dem Chaos der parkierenden Autos – die überall im Kulturland und Wald standen und nicht zuletzt auch den Öffentlichen Verkehr behinderten – begegnen wollte, waren gute Ideen gefragt. Die drei Gemeinden bildeten eine Arbeitsgruppe, zu welcher sich bald auch die vier Gemeinden am Jurafuss gesellten. Die Projektgruppe, welche aus Gemeinderäten aller sieben Gemeinden bestand, wollte gleichzeitig den sanften Tourismus fördern und begann mit dem Sammeln von Daten. Wanderwege, Aussichtspunkte und historisch interessante Orte waren ja schon vorhanden. Den berühmten roten Faden fand man schliesslich in der Schaffung eines Sagenwegs. Das Buch der Solothurner Geschichtensammlerin und -erzählerin Elisabeth Pfluger «Flüeblüemli und Aarechisle» enthält Sagen und Müsterli aus dem Bipperamt und umliegenden Orten, die zur Bildung eines Sagenwegs hervorragend passten.
Entstanden sind drei Hauptrouten, die in den Talgemeinden Attiswil, Wiedlisbach und Niederbipp beginnen. Die Wege sind auch querverbunden, wodurch man individuelle Wanderrouten mit unterschiedlichen Längen und Höhenunterschieden zusammenstellen kann. Wer lieber auf halber Höhe mit Wandern beginnen will, fährt mit dem Postauto in eines der Bergdörfer oder mit dem PW auf die Parkplätze in Rumsiberg, Farnern oder Wolfisberg. Infohäuser bei diesen Parkplätzen geben die letzten Informationen. Die erste Route beginnt in Attiswil, von wo man 12 Stationen des Sagenwegs erreichen kann. Sie bildet quasi einen grossen Bogen über die weiteren Routen und führt nach dem Aufstieg vom Hochchrüz zur Schmidematt mit Abstecher zur Bättlerchuchi, zu den Aussichtspunkten auf dem Ankehubel
und der Buchmatt und schliesslich zum Abstieg nach Wolfisberg oder direkt nach Niederbipp. Die zweite, ebenfalls mit eigenen Wegweisern markierte Route, führt vorbei an vier Sagenstationen von Wiedlisbach nach Rumisberg bis zur Hinteregg. Und der dritte Sagen-Wanderweg führt die ersten beiden Routen querend von Niderbipp über Oberbipp nach Rumisberg und Farnern, auf welchem man weitere acht Sagenposten erreichen kann.
Die spezielle Karte des Wanderwegs enthält nicht nur die 24 Sagenstationen, sondern auch eine Vielzahl an sehenswerten Orten und Aussichtspunkten. Einheitliche Tafeln erzählen die kurzen Geschichten und Sagen und laden so zum kurzen Verweilen ein. So zum Beispiel jene von «Waldlochbabis Höhle»:
Waldlochbabis Höhle
«In früheren Zeiten gab es in der Nähe der Frauchsrütti einen schönen Bauernhof mit Namen Schindelhof. Die älteren Bauersleute bekamen erst spät noch Nachwuchs. Jakob wurde nach Strich und Faden verwöhnt; er entwickelte sich zu einem frechen und groben Buben gegenüber Mensch und Tier. Als Jüngling erlaubte er sich alles, ‹was Gott verboten hatte› und wurde vor allem zu einem leidenschaftlichen Jäger und Wilderer. Mit seiner Büchse schlich er sich Nacht für Nacht im Bergwald herum; kein Reh, kein Fuchs und kein Hase war vor ihm sicher. Als er eines Sonntags im Reckenwald auf dem Anstand hockte, schlurfte eine alte, müde Frau heran. Dieses störte Jakob und er forderte die Frau böse auf, sein Jagdrevier sofort zu verlassen! Die Alte fürchtete sich nicht und sagte: ‹Ich wohne schon viele hundert Jahre hier oben in einer Höhle – man sagt mir Waldlochbabi.› ‹Ja, ein Babi bist du – dazu alt und runzlig und krumm wie eine Wurzel! Jetzt geh mir aber aus der Schusslinie, ich muss noch einen Braten nach Hause bringen.› Die Frau wollte gehen, drehte sich nochmals um und warnte ihn: ‹Solltest du einen weissen Hirsch sehen, lass ihn in Ruhe – sonst könnte es dein Unglück werden.› Jakob lachte heimlich über diese merkwürdige Alte. ‹Weisse Hirsche gibt es ja gar nicht – und was hat mir dieses Babi eigentlich zu befehlen!› Plötzlich erblickte er einen weissen Hirsch. Er riss die Flinte hoch und drückte ab – aber der Abzug war blockiert! Wütend zerschlug er die Flinte. Der Hirsch kam näher – und verwandelte sich in eine schöne, junge Frau. Er fand Gefallen an ihr und wollte sich ihr sofort nähern. Die Frau sagte: ‹Halt, du hast nicht gehorcht und die Flinte auf mich gerichtet. Geh heim. Ich sehe, den heutigen Menschen ist nicht zu trauen.› Ein Blitz fuhr in den Boden, Jakob war wie geblendet. Er streckte seine Hand nach der Frau aus – aber diese war verschwunden. Zuhause war ihm dieses Erlebnis anzusehen. Sein Kopf war geschwollen, das Gesicht verfärbt. Er versank in Schweigen, erzählte nichts und musste immerzu an die schöne Frau denken. Seine Lust aufs Jagen war ihm vergangen. Seit dieser Begegnung hockte er nur noch zu Hause und schlurfte auf dem Hofe herum. Er begann zu kränkeln und schon bald musste er von dieser Welt gehen. Als man im Muniboden eine Höhle entdeckte, glaubte man die Wohnung des Waldlochbabis gefunden zu haben. Seither heisst die Höhle «Waldlochbabi».
Bei einigen Sagen-Tafeln stehen Metallskulpturen, die von Schülern unter Leitung ihres initiativen Lehrers angefertigt wurden. So wird die Szenerie eines Duells ebenso dargestellt wie der Muuserhans, Waldlochbabis Drachen im Chällerflüeli und viele mehr. Oberhalb von Rumisberg steht die «Hexe in der Kuhgasse»:
Hexe in der Kuhgasse
«Früher ging es in der Gegend um den Haltenacher in Rumisberg oft nicht mit rechten Dingen zu und her. An der Haltenacherstrasse stellten sich die roten Hunde dem Wanderer in den Weg und etwas weiter oben, bei der Abzweigung in die Kuhgasse, sollen Hexen ihr Unwesen getrieben haben. Bei der Eiche, deren Äste weit in die Farnererstrasse hinausragen, musste ein böses Weib umhergeistern, weil es zu Lebzeiten mit verlogenem Gerede die Leute hintereinander gebracht hat. In der Dämmerung und in klaren Nächten sah man sie hier als abschreckendes Beispiel an den Pranger, das heisst an die Eiche, gestellt. Ein Bauer, welcher mit seinem Ross und Wagen Mehl in der Mühle Oberbipp abholte, fuhr die Strasse entlang nach Farnern. Man warnte ihn, etwa hundert Meter vor der Eiche abzusteigen und das Ross am Halfter zu führen, da es sonst scheuen und über den Weg hinausspringen könnte. Nur mit gutem Zureden, Flattieren und Tätscheln war es überhaupt möglich, das brave Ross an der verhexten Eiche vorbei zu führen! Ein Ungeheuer oder eine verhexte Frau konnte der Fuhrmann aber nirgends wahrnehmen. In der heutigen Zeit, wo nur noch selten jemand mit einem Pferd an der Eiche vorbeikommt, ist nichts mehr von der verhexten Stelle zu verspüren. Ist das Weib mit dem Lästermaul endlich erlöst worden oder sind wir nicht mehr fähig, solche ungeheuerlichen Dinge und Orte zu fühlen?»
Schöne Aussicht, magische Orte
Der Sagenweg ist ein Angebot für Ausflügler, die den Jura nicht nur bei nebelfreien Tagen besuchen, sondern für Wanderer, die «den Berg» zu Fuss erforschen und erleben wollen. Dreht man sich an schönen Tagen um, so entfaltet sich sozusagen die zweite Dimension dieser herrlichen Landschaft: die Sicht auf das Mittelland und den Alpenkranz. Um den logischen Fragen nach dem Namen der Berge begegnen zu können, wurden an vier Orten Panoramatafeln aufgestellt. Neben dem Stierenberg, dem Reckenacker und dem Ankehubel steht eine solche auch bei der Bättlerchuchi. Die Felsen im Wald haben eine fast mystische Wirkung und sind heute ein beliebter Rast- und Aufenthaltsort für Wandernde und – in den glatten Felsen gut möglich – auch Kletterer. Hier, nah der Kantonsgrenze zu Solothurn, sollen sich zu früheren Zeiten Vaganten herumgetrieben haben. Wurden sie von den einen Ordnungshütern gejagt, wechselten sie schnell den Kanton und hatten dann noch Zeit, den Verfolgern die Zunge herauszustrecken! Eine andere Geschichte erklärt den Namen «Bättlerchuchi» so: Die Leute im Rosinlital ennet der ersten Jurakette waren arm und mussten von Zeit zu Zeit auf Betteltour in die vorderen Dörfer. Auf der Passhöhe, der heutigen Bättlerchuchi, kochten und tranken sie die erbettelten (oder erbeuteten) Gaben. Man hörte die feiernden Bettler bis weit in die Nacht hinein!
Pflege und Auskunft
2010 hat sich aus der Arbeitsgruppe der Verein Pro Jura Bipperamt gebildet. Noch heute treffen sich die ehemaligen Initianten zum Unterhalt der Tafeln und zur Schaffung von weiteren Propaganda- und Informationsmitteln. Noch immer werden neue Teile des Wanderwegnetzes in die Karte aufgenommen oder für spezielle Zwecke hergerichtet. Bereits wurden auch Bikestrecken gekennzeichnet und ein neues Projekt sieht einen Barfussweg im Wald oberhalb von Wiedlisbach vor. Weil zusätzliche Sehenswürdigkeiten aufgenommen werden, muss jetzt die Karte sogar vergrössert werden. Ein Leporello des Alpenpanoramas findet grosses Interesse an den Verkaufsstellen in Restaurants, Gemeindeverwaltungen oder Tourismusbüros der Region. Der Verein bietet zudem geführte Wanderungen an. Ob nun eine einstündige Rundwanderung ab den Bahnhöfen Oberbipp oder Wiedlisbach, eine etwa dreistündige Wanderung ab Rumisberg oder eine Tageswanderung mit Picknick auf einem der Rastplätze mit Ambiete oder herrlicher Aussicht: Ein Anhalten im Bipperamt lohnt sich auch dann, wenn es nicht ausgerechnet ein Stau auf der Autobahn sein soll!
Kontakt
Pro Jura Bipperamt
Brigitta Trösch
Fluhgässli 5
4539 Farnern
Telefon 032 636 32 24