Schwyzerörgeli-Quartett UrWurzu
Die Volksmusikszene darf sich rühmen, viele junge Musikantinnen und Musikanten zu haben. Schön dabei ist die Tatsache, dass die jungen Leute durchaus einen Sinn für Tradition haben. Sie haben längst entdeckt, dass die traditionelle Ländlermusik auch Anforderungen abverlangt, die zum Weitermachen motivieren.
23.09.2016 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Junge Menschen suchen die Herausforderung, sie wollen Grenzen überschreiten und testen, wie weit man gehen kann. Damit übernehmen sie in der Gesellschaft und eben auch im Musikfach jenen Part, der die Szene weiter bringt. Diese Grenzen können in rhythmischen und harmonischen Belangen liegen, die dann oft zu Crossover-Interpretationen führen, in welchen Kulturen aus der ganzen Welt verschmelzen. Herausforderungen sind aber auch im sauberen, virtuosen Musizieren zu finden, wofür unsere Ländlermusik eine Fülle von Musikstücken anbietet. Eine weitere Gruppe sind die Karrieresuchenden. Jene, welche Musik spielen, die ein möglichst breites Publikum anspricht. Das ergibt dann Formationen, die auf laute Stimmung setzen. In allen Bereichen kann man heute junge Kapellen und Örgeliformationen ausmachen. Da gibt es für jeden Geschmack etwas. Die vier Emmentaler Giele vom Schwyzerörgeli-Quartett UrWurzu gehören trotz dem trendigen Namen, der im Untertitel sogar den englischen Begriff «Back to the Roots» trägt, zu den Liebhabern der traditionellen Ländlermusik, zu jener Örgelimusik, die schon ihre Grossväter und Väter gespielt und gerne gehört haben. Ihre Herausforderung liegt im genauen Spiel, im Bewältigen der technischen Ansprüche und in der freudigen Empfindung bei Spielen von schönen Harmonien und Melodien. Und noch etwas haben sie mit anderen jungen Ländlermusikantinnen und -musikanten gemeinsam: Sie suchen den Kontakt zu Gleichgesinnten in der ganzen Schweiz. Damit haben sie das entdeckt, was schon frühere Generationen begeistert hat und was oftmals eine Antriebsfeder zum Weitermachen war: Die Freundschaften und die Kollegialität unter Musikanten – eben Musikantenfreundschaften.
Kultur vererben
Der Austausch wird umso interessanter, wenn wirklich verschiedenen Kulturen zusammentreffen. So finden sich Emmentaler, Entlebucher, Innerschweizer, Toggenburger und Appenzeller Musikanten zum fröhlichen Beisammensein und zum Musizieren. Sie schauen einander Fertigkeiten ab, lernen Melodien aus anderen Regionen und schaffen sich so ein vielfältiges Repertoire. In den früheren Zeiten der Ländlermusik war das grundsätzlich auch schon so, wobei der Austausch jedoch viel schwieriger war. Es gab nicht so viele Schallplatten, und ein Auto hatte auch nicht jeder. Trotzdem kam es natürlich vor, und die Geschichte der bekannten Komponisten aus früheren Zeiten gibt dem geneigten Beobachter heute noch Auskunft über die Einflüsse, die durch solche Kontakte entstanden sind. Da das Reisen in andere Gegenden damals – wir reden von den Nachkriegsjahren – so schwierig und oftmals auch zu kostspielig für die bescheidenen Budgets waren, blieben die Musikanten zunächst längere Zeit in ihrer engeren Heimat. Sie spielten jene Musik, die dort zuhause war. So festigten sie ihren eigenen Musikdialekt. Solche Hindernisse gibt es heute kaum mehr. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen und dem Aufblühen der Medien veränderte sich die Situation, was sicher zu Horizonterweiterungen auch für die Musik geführt hat. «Wenn wir kein eigenes Engagement haben, fahren wir oftmals in die Innerschweiz oder auch ins Toggenburg an eine Stubete, um unsere Musikfreunde anzutreffen», erzählen die beiden Wüthrich-Brüder aus Eggiwil.
Heimatliches Emmental
Ungefähr 2’450 Leute wohnen in der Gemeinde Eggiwil im oberen Emmental, die zu den grösseren im Kanton Bern gehört. Die Land- und Forstwirtschaft ist nach wie vor ein tragender Erwerbszweig. Ein gesundes, vielfältiges Gewerbe bietet mehr als der Hälfte der Einwohner Arbeitsstellen an, in welchen manche Kleinbauern – in Eggiwil hat es noch 225 ganzjährig bewohnte Landwirtschaftsbetriebe – das nötige Zusatzeinkommen verdienen können. Obwohl die Gemeinde tief im Emmental liegt, erreicht man mit dem Auto innerhalb 10 Minuten den Hauptort Langnau oder in einer halben Stunde Zentren wie Bern, Burgdorf oder Thun. Trotzdem verfügt das Dorf über ein gutes Angebot an Einkaufsmöglichkeiten. In diesem Umfeld – auf dem Aebnithubel – wohnt auch die Familie Wüthrich. Er ist einer jener vielen Hügel, die dem Emmental sein Gesicht geben. Wie man seinerzeit auf die Idee kam, einen Bauernhof auf einen derart steilen Hubel zu bauen, entzieht sich der Kenntnis des Schreibenden. Schön aber ist es dort allemal – wenn man einmal oben ist! Ist es zunächst noch ein einspuriges geteertes Strässchen, das sich östlich vom Dorfzentrum in die Höhe windet, so wird dieses durch einen Wald zum abenteuerlichen Offroad-Erlebnis, das nur geübte Autofahrer bewältigen können. Wüthrichs sind sich das gewöhnt. Sie sind hier aufgewachsen und leben grösstenteils heute noch da. Den Weg auf den Hubel haben sie schon tausendfach begangen und befahren. Im Sommer und im Winter, bei Tag und – wie man es bei einer Musikantenfamilie vermuten kann – sicher auch zu jeder Nachtstunde! Von ihrem Hof aus aber öffnet sich eine traumhafte Aussicht auf den Talanfang und die dahinter liegenden Berge mit dem mächtigen Hohgant im Zentrum. Prägend sind die prächtigen Emmentaler Bauernhäuser mit ihren grossen Dächern und dem immer sehr üppigen Blumenschmuck. Kein Wunder, dass man hier jutzt und einheimische Klänge spielt.
Verwurzelungen
Im Eggiwil, wie die Einheimischen sagen, gibt es viele und starke Wurzeln in der Musiktradition. Es gab schon diverse Gruppen, die den Namen der Gemeinde in alle Welt getragen haben. Denken wir dabei nur an die Älplerfründe Eggiwil, die Eggiwiler Ländlerfründe oder an die Ländler-Chutze Eggiwil und sicher noch einige mehr. Natürlich findet man hier auch Jodlerklubs und Jodelgruppen und im Bereich des Brauchtums die Trachtengruppe Eggiwil sowie den Seilzieh- und Schwingklub. Auch die Familie Wüthrich macht in diesem Umfeld zünftig mit. Vater Ueli ist ein in Ländlerkreisen sehr bekannter Örgeler, der im Schwyzerörgeliquartett Lauberhorn und dann viele Jahre im Schwyzerörgeliquartett Trumpf Buur aufgetreten ist. Beide Formationen sind mittlerweile nicht mehr aktiv. Auch Mutter Susanne spielte in ihrer Jugendzeit Schwyzerörgeli und war bis ins Jahr 2000 Mitspielerin bei den Eggiwiler Ländlerfründe. Dass ihre Söhne Dominik und Reto auch Ländlermusikanten sind, erstaunt unter diesem Gesichtspunkt nicht. «Unsere Eltern haben uns aber nie dazu gedrängt», erzählt Dominik. Und sein Bruder Reto ergänzt: «Das ist vielleicht sogar einer der Gründe dafür, dass wir heute selber Musikanten sind!» Natürlich haben sie schon im Bubenalter nicht nur viel Örgelimusik im Haus gehört, sondern sich auch selber daran versucht. «Weil in unserem Haus der Platz etwas eng ist, hat unser Vater oft im Badezimmer geübt», erzählen die beiden. Sie hätten dann auch ab und zu etwas mitgespielt, aber nicht so ganz richtig, eher nur «gigaschet»! Die traditionelle Musik aber wurde ihnen auf diese Weise schon sehr nahe gebracht, ein Umstand, von welchem sie heute profitieren können.
Obwohl die Buben bei ihren Eltern dieses und jenes abschauen konnten, besuchten sie auch den Musikunterricht an der Musikschule. Reto Wüthrich besuchte vorerst bei Bruno Raemy (Swiss Ländler Gamblers) und dann bei Kurt Schmid den Örgeliunterricht. Dominik kam mit dem Örgelispiel, das er autodidaktisch lernte, nicht so recht in Fahrt. Und als er sah, dass sein Bruder Reto viel schneller Fortschritte erzielte, gab er es auf. Stattdessen liess er sich zum Schlagzeuger ausbilden. Als solcher spielt er noch heute in einer Jazzband der Musikschule. Die Buben besuchten die Musikschule aber ohne Ambitionen. Viel mehr beschäftigten sie sich wie ihre Kameraden mit Unihockey, wofür es in Eggiwil einen eigenen Verein gibt. Die Tatsache, dass sie auch Schwyzerörgeli spielten, war zwar bekannt, erregte aber kein weiteres Aufsehen. So erging es auch Reto Jaun. Er wohnt auf der gegenüber liegenden Talseite und sein Vater ist auch ein Örgeler, der damals bei den Langnauer-Buebe spielte und heute dem Schwyzerörgeli-Quartett Eggiwil angehört. Man kann also sagen, dass die Sache schon früh aufgegleist war.
Es waren dann die Väter Wüthrich und Jaun, die ihre damals etwa 14-jährigen Söhne darauf aufmerksam machten, dass sie doch einmal miteinander örgelen könnten. «Ich weiss noch», lacht Reto Wüthrich, «wie wir bei unserem ersten Zusammentreffen kaum miteinander geredet haben!» Sie begannen aber regelmässig miteinander zu üben, und so sah sich Dominik veranlasst, das Duo mit der Bassgeige – das Spiel darauf hatte er sich selber beigebracht – zu begleiten. Auf diese Weise entstand im Jahr 2009 das Schwyzerörgeli Trio Wüthrich-Jaun. Zwei Jahr später stiess dann der Entlebucher Hans Stalder als dritter Örgeler dazu, worauf der Formationsname einfach mit seinem Namen ergänzt wurde. Dieser war den jungen Musikanten auch nie wichtig. Schon damals aber hatten sie sich eindeutig mit der traditionellen Örgelimusik befasst. Ihre Vorbilder waren die Schmid-Buebe (ihr Lehrer Kurt Schmid ist einer aus der legendären Formation) oder das Schwyzerörgeli-Quartett Längenberg. Wie diese Vorbilder spielten sie jedoch gerne auch Kompositionen anderer Exponenten der traditionellen Örgeliszene, etwa von Peter Zinsli oder Josias Jenny und anderen mehr. Nie aber hatten sie Gelüste, in die Stimmungs- oder gar Schlager- und Popmusik abzuschweifen. «Wir spielen noch heute einfach das, was uns gefällt und freuen uns darüber, wenn unser Publikum daran auch Gefallen hat!»
UrWurzu – Back to the Roots
Ihren ersten Auftritt hatten die jungen Musikanten im Restaurant Turm in Signau, einem bekannten Ländlermusik-Lokal. Wirt Toni Fuchs hatte sich mit seinen Stubeten und Engagements gerne für Nachwuchsformationen engagiert, so auch für die des Quartett Wüthrich-Jaun-Stalder. Ausserdem spielten sie immer öfter an Firmenanlässen in der Region, an Geburtstagsfeiern und zunehmend auch an Jodlerunterhaltungen. Da Hans Stalder aus Bescheidenheit eigentlich nicht wollte, dass sein Familienname im Formationsnamen vorkommt, suchten sie einen neuen Namen. Das entpuppte sich als schwieriges Unternehmen, denn sie waren sich darüber einig, dass kein Fluss, kein «Hoger» oder Berg, keine Blume und auch keine Fründe oder kein Echo darin vorkommen sollte. Damit folgten sie dem momentanen Trend, der sie somit auch als junge Kapelle identifiziert. Hingegen sollte der Namen schon etwas ausdrücken. Er sollte zeigen, dass sie gerne zu ihren Wurzeln stehen, und zwar zu den ganz alten. Was lag letztlich näher, als Urwurzeln zu wählen, was phonetisch in Berndeutsch geschrieben eben UrWurzu heisst.
Seit 2014 treten sie nun mit diesem Namen auf. Wegen beruflichen Belastungen hat sich Hans Stalder mittlerweile zurückgezogen und an seiner Stelle spielt nun Lukas Steiner, der das Örgelen zunächst bei Hanspeter Zaugg und dann auch bei Kurt Schmid erlernte. Auch seine Eltern sind in der Szene bekannt, spielte doch sein Vater Michael ebenfalls bei den Langnauer-Buebe. Lukas‘ Mutter ist Bassgeigerin beim SQ Aemmegruess Eggiwil, bei den Älplerfründe Eggiwil und den Bachbergörgelern Konolfingen. Zu den Eigenheiten der Formation gehört es, dass jeder auch Melodieführer sein kann. Originaltreue ist ihnen einzig bei der Melodie wichtig. Die zweite Stimme und die Begleitung – also das ganze Arrangement – sind frei und können auch variieren. Dass sie immer wieder als die «jungen Schmid-Giele» bezeichnet werden, ehrt sie zwar, ist aber nicht ihr Ziel. «Wir hoffen, dereinst unseren eigenen Spielstil zu entwickeln und freuen uns schon heute darüber, wenn wir als Musikanten akustisch erkannt werden», erklärt Reto Wüthrich. Auch in Sachen Tenü verhalten sie sich so, wie es die Jungen heute tun: Es ist eigentlich egal! Weil Edelweiss-Hemden eine gute Wirkung bei verschiedenen Temperaturen haben, und weil sie durchaus wissen, dass ein verschwitztes T-Shirt nicht sehr repräsentabel ist, treten sie oft im Edelweiss-Hemd auf. Und wenn es einmal ein «Gaschi» an einem festlicheren Anlass, wie etwa einer Hochzeitsfeier ist, treten sie auch in festlicher Kleidung auf. Mit ihrem ersten Fernsehauftritt als Jungformation am 10. Januar 2010 haben sie die Aufmerksamkeit des Fachpublikums geweckt und einige bedeutende Auftritte sind bereits erfolgt. Man kann davon ausgehen, dass UrWurzu die Ländlermusikszene weiterhin bereichern wird und dass die vier jungen Männer die traditionelle Ländlermusik nicht nur im Emmental bis in die nächsten Generationen tragen werden. Bis eine erste CD erscheint, wollen sich die Musikanten noch etwas Zeit lassen. Vorher stehen andere Ziele im Beruf und im Privatleben an. Auch hier bleiben sie trotz modernem Leben eben traditionell – typisch UrWurzu!
Die vier Musikanten
Reto Wüthrich (19. Februar 1995) spielt Schwyzerörgeli, arbeitet beruflich als Elektro-Installateur und wohnt noch bei seinen Eltern in Eggiwil. Ausser bei UrWurzu ist er fixes Mitglied der Formationen Oberemmesee.
Dominik Wüthrich (16. Mai 1990) spielt Bass. Der gelernte Automechaniker arbeitet heute als Hilfselektriker und wohnt mit seiner Freundin Renate in Langnau. Ausser bei UrWurzu ist er gefragter Aushilfsbassist etwa bei Follchlore, Vater und Sohn Jaun, den Formationen Ober-emmensee, Mürtschegruess, Lasenberg oder in der Kapelle Honegg.
Reto Jaun (24. Februar 1996) spielt Schwyzerörgeli und wohnt auf dem elterlichen Hof in Eggiwil. Er hat Landwirt gelernt, arbeitet jetzt aber als Maurer. Ausser bei UrWurzu hört man ihn im Schwyzerörgeli-Quartett Eggiwil mit seinem Vater und er jodelt auch im Jodlerklub Sennegruess Gohl.
Lukas Steiner (17. Januar 1996) spielt Schwyzerörgeli. Er arbeitet als Chauffeur und wohnt ebenfalls in Eggiwil. Derzeit absolviert er die RS, weshalb die musikalischen Aktivitäten etwas ruhen müssen. Ausser bei UrWurzu steht er noch als Jodler bei der Jodlergruppe Bärg-bure Ranflüeh in den Reihen.