Lebendiges Brauchtum in Ausserrhoden
Ein Brauchtumsanlass kann dann als lebendig bezeichnet werden, wenn er sich trotz historischen Wurzeln dem Zeitgeist angleicht. Das kann man vom Silvesterchlausen im Kanton Appenzell Ausserrhoden behaupten, das nicht so stur an traditionelle Gepflogenheiten gebunden ist. Bald ist es wieder soweit, die Chläuse werden langsam kribbelig und der Groscht muss gerüstet werden.
23.11.2017 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Walter «Wälti» Frick aus Urnäsch ist seit 53 Jahren am Chlausen interessiert, obschon er erst 57 Jahre alt ist! Im Herbst 1964 packte ihn erstmals das Chlausenfieber, das ihn seither nie mehr los liess. Das Zauren, Jodeln und Musizieren ist für ihn ein wichtiges Lebenselixier, das er professionell auslebt. Als Kurator im Appenzeller Brauchtumsmuseum ist er erste Ansprechperson in Sachen einheimisches Brauchtum. Sein Wissen darüber hat sich seit frühester Kindheit ganz praktisch ergeben, denn um ihn herum gehören das Brauchtum, der Gesang und die Musik ganz selbstverständlich zum täglichen Leben. Mit seiner Stimme, dem Alphorn und der Bassgeige ist er fester Bestandteil der Kapelle Enzian Appenzell und als Bassgeiger zusätzlich der Original Sonder Streichmusik. Als Kursleiter zeigt er Interessierten das Zauren und Ruggusele, und beim Pilzesuchen oder einfach Wandern in der schönen Bergwelt rund um seine Heimat Urnäsch befriedigt er seinen Gluscht nach Natur pur!
Mit Hilfe seiner Schwester Heidi bastelte sich Wälti in den frühen Sechzigerjahren ein Groscht – so nennen die Appenzeller das ganze Tenü der Silvesterchläuse – und machte sich dann am Silvester ganz alleine auf den Weg, den sogenannten Strech durchs Dorf. Von Tür zu Tür gehend zaurete er zunächst und wünschte dann den Leuten ein gutes neues Jahr. So tun es die Silvesterchläuse eben seit jeher.
Vier Jahrhunderte Tradition
Die Ursprünge des Silvesterchlausens sind nicht ganz klar auszumachen. Die Gestalten und ihr Lärmen mit den Schellen zeigen Parallelen zu heidnischen Geistervertreibungen, wie man sie an manchen anderen Orten auch kennt. Die Bezeichnung Chlaus hingegen deutet auf den Brauch rund um St. Nikolaus hin, der sich ja auch von verschiedenen, nicht selten grausigen Typen – heute ist das bei uns der Schmutzli – begleiten liess. Sicher ist jedoch, dass der erste schriftliche Hinweis auf das Chlausen aus dem Jahr 1663 stammt. Dass das ursprünglich adventliche Treiben immer wilder und fasnächtlicher wurde, passte der Kirche nicht. Möglicherweise deshalb wurde der Brauch somit von der Adventszeit auf den Silvester verlegt.
Die Jahreswende wird in den ausserrhodischen Gemeinden Urnäsch und Waldstatt zweimal gefeiert; einmal nach dem gregorianischen Kalender am 31. Dezember und dann nochmals nach dem julianischen Kalender am 13. Januar, den sie Alter Silvester nennen. Fallen diese Tage auf einen Sonntag, wird am Vortag gefeiert. Im Kanton Appenzell Innerrhoden wurde das Chlausen laut dem Mandantenbuch von 1776 bis 1808 mit fünf Talern Busse bestraft, was dazu führte, dass der Brauch nur im Kanton Appenzell Ausserrhoden erhalten blieb. Dennoch wurde das Chlausen auch in Innerrhoden bis um das Jahr 1900 in kleinem Rahmen von der lokalen Bezirksobrigkeit stillschweigend toleriert. Sowohl das Aussehen wie auch das Zauren hat sich aber erst in neuerer Zeit in die heutige Form ergeben. Walter Frick weiss, dass sich die wüsten Chläuse noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts mehr oder weniger mit Lumpen verkleidet haben und auch ihr Zauren sei oftmals mehr ein Gejohle gewesen. Man kannte das heute übliche mehrstimmige Zauren kaum, das erst durch die Entwicklung der Jodlerklubs und Jodlergruppen in der Region möglich wurde.
Der Brauch ist ein Selbstläufer
Noch in den 1960er-Jahren fand das Brauchtum des Silvesterchlausens in kleinerem Rahmen statt. In Urnäsch beispielsweise hatte es damals etwa fünf Erwachsenen-Schuppel; so werden die Gruppen genannt. Heute gibt es dort an die 30 Schuppel der Erwachsenen und erfreulicherweise zunehmend etwa zehn Goofe-Schuppel mit Kindern und Jugendlichen. Zur Erhaltung und weiteren Entwicklung mussten keine speziellen Anstrengungen erbracht werden. Der Brauch ist ein Selbstläufer. Das Zusammensein und gemeinsame Tun, das Zauren und nicht zuletzt die Zurschaustellung der Silvesterchläuse sprechen viele an.
Besondere Aufmerksamkeit erregen die kunstvoll gebauten Hauben, die während vielen Stunden übers ganze Jahr selber angefertigt wurden. Ursprünglich bestanden diese aus einem Lampenschirm ähnlich einem Drahtgestell, das mit Stoff überspannt wurde. Als Dekoration dienten farbige Glaskugeln (zum Beispiel Weihnachtsschmuck) und dergleichen. Erst mit der Zeit entstanden szenische Darstellungen mit aus Karton herausgeschnittenen und farbig bemalten Figuren. In diesen zeigt sich auch der Wandel vom ursprünglichen Adventsbrauch zum sennischen Brauchtum. So werden in einem Schuppel auf alle Hauben verteilt beispielsweise ganze Alpaufzüge dargestellt. Heute besteht eine Haube aus Styropor, den man nach eigenen Plänen millimetergenau zuschneiden lassen kann. Die Figuren sind aus Holz geschnitzt.
Keine Organisation
Natürlich finden sich nicht mehr nur die Männer aus bäuerlichen Kreisen in den Schuppeln. Wie in allen Gruppierungen sind darin heute alle Berufsgattungen anzutreffen. Verbindend ist die Vorliebe zum Brauchtum, im Speziellen zum Zauren. Ein Schuppel besteht traditionell aus sechs Silvesterchläusen. Es können aber auch mal nur vier oder bis zehn sein. Dass sich auch hinter den Frauengestalten ausschliesslich Männer befinden, hat nicht zuletzt mit der nötigen Kondition zu tun. Der Groscht, also das Tenü mit den Rollen und Schellen, die Larve und die Haube bringen zusammen an die 40 Kilogramm Gewicht auf die Waage, der jeweils den ganzen Tag und bis spät in die Nacht hinein getragen wird. Das ganze Treiben und auch die Schuppel selber müssen nicht offiziell organisiert werden, weshalb es auch keinen Trägerverein und dergleichen gibt. Man trifft sich nur innerhalb des Schuppels zur Absprache eines Themas und natürlich des vorgesehenen Strechs. Auch die Chlausenzäuerli müssen nicht speziell geprobt werden. Viele davon sind sehr alt und wurden von Generation zu Generation überliefert. Um die alten Zäuerli haben sich die Melodienschöpfer Arthur und Noldi Alder aus Urnäsch speziell verdient gemacht, indem sie diese erfasst und aufgeschrieben haben. «In unserem Waisenhaus-Schuppel singen wir aber zusätzlich viele Zäuerli von Walter Neff, der bei uns aktiv mitmacht», erklärt Walter Frick. Natürlich haben auch die mittlerweile in grosser Anzahl vorhandenen Tonaufnahmen ganz allgemein zur Verbreitung beigetragen. Einer singt jeweils die Melodie vor, ein anderer macht spontan die zweite Stimme und die übrigen füllen den Akkord mit Gradhebe. Auch wenn die Silvesterchläuse durch ihre Verkleidung unkenntlich sind, kann der Fachkundige die Schuppel an ihrem Gesang erkennen. Bezeichnet werden die Schuppel oftmals nach ihrer Herkunft, also beispielsweise nach dem Ortsteil oder Hof.
«Da unsere Appezellerhäuser meistens nur geringe Raumhöhen aufweisen, müssen wir am Abend beim Rundgang durch die Wirtschaften oftmals richtiggehend kriechen.»
Überlieferte Kostümierung
Man unterscheidet drei Haupttypen von Silvesterchläusen: Die Schöne, die Schö-Wüeschte und die Wüeschte. Die Schöne tragen eine der Frauentracht ähnliche Kleidung und eine freundlich, puppenähnliche Maske, welche Larve genannt wird. Besonders auffällig sind die Hauben, die eine Höhe von bis 80 Zentimetern erreichen. «Da unsere Appenzellerhäuser meistens nur geringe Raumhöhen aufweisen, müssen wir am Abend beim Rundgang durch die Wirtschaften oftmals richtiggehend kriechen», lacht Walter Frick. Die Kopfbedeckung der Schö-Wüeschte ist jener der Schönen ähnlich, wird aber wie das ganze Tenü mit Naturmaterialien – also Tannenreisig, Moos und dergleichen – verziert. Auf ihrer Kleidung sind diese Materialien hübsch und wohlgeordnet angebracht. Ihr Gesicht verbergen sie hinter mit Naturmaterialien beklebten Larven. Ganz im Gegenteil dazu sehen die Wüeschte ihrer Bezeichnung folgend viel grober und auch wuchtiger aus. Auch ihre Kopfbedeckung hat ein eher wildes Erscheinungsbild und ihre Larven aus Pappmaché – dem Brei aus Zeitungspapier und Fischkleister – sind furchterregend gestaltet.
Zur Ausrüstung gehört auch ein Gstältli, an welchem acht bis dreizehn kugelförmige Schellen befestigt sind, die man Rollen nennt. Der Träger dieser Rollen heisst folgerichtig Rolli. Der Anführer ist der Vorrolli und der hinterste der Noerolli. Jene, die eine oder zwei grosse Schellen auf Brust und Rücken tragen, werden Mannevölcher, Schelli oder Schellenchlaus genannt. Der Nachwuchs in den Goofe-Schuppeln ist in der Regel ohne Larve unterwegs. In diesen Schuppeln sind im Gegensatz zu den Erwachsenen auch Mädchen zu finden. Eigentlich gibt es noch eine vierte Variante von Silvesterchläusen, die sehr individuell gestaltet sind. Sie werden als Spasschläuse bezeichnet und stellen in einfacheren Gewändern Berufsleute wie Bauern, Waldarbeiter oder auch Köche und weitere dar. In dieser Art und Weise haben sich vor Mitte des letzten Jahrhunderts die meisten Schuppel präsentiert, als man den grossen Aufwand für das Herstellen des aufwändigen Groschts noch nicht erbringen wollte oder konnte. Heute kommen die Spasschläuse zum Einsatz, wenn Regenwetter das Tragen der schönen Gewänder und Hauben nicht erlaubt.
Publikumsmagnet
War das bunte und laute Treiben ursprünglich ein Brauch für die örtliche Bevölkerung, ist es längst zu einem grossen Touristenspektakel geworden. «Tausende säumen jeweils die Strassen, wie wenn sie auf einen Umzug warten würden», berichtet Walter Frick. Sämtliche Restaurants sind bis in die späte Nacht geöffnet, wo man örtliche Hausmannskost bekommt und auf den Besuch der Schuppel wartet. Das grosse Publikum macht natürlich auch den Silvesterchläusen Spass.
Das wirklich echte Gefühl, das den Brauch des Chlausens inhaltlich trägt und die Brauchtumsliebhaber fasziniert, entsteht aber beim einsamen Gang durch den Strech, oftmals auch durch hohe Schneemauern zu den entlegenen Höfen und beim Zauren hinter der Maske, die dem Chlausezäuerli seine eigene gedämpfte Klangfarbe verleiht. Durchs ganze Jahr ist das Silvesterchlausen im Brauchtumsmuseum Urnäsch dargestellt, wo man an der Wärme einen Eindruck dieses winterlichen Brauchtums erhalten kann.
Kontakt
Appenzeller Brauchtumsmuseum
Dorfplatz 6
9107 Urnäsch
Telefon 071 364 23 22
www.museum-urnaesch.ch