Das Wort hat Stephan Haldemann
Was für eine erfreuliche Überraschung, das «Wort» für das Heft «Land&Musig» erteilt zu bekommen! Deshalb habe ich mir ein paar Gedanken zu den Worten gemacht, die wir tagtäglich sagen oder zu hören bekommen. Zum Anfang dazu eine kleine Geschichte:
Eines Tages entschloss sich ein alter König, die Herrschaft über sein Reich in die Hände eines anderen zu legen. Der erste, an den er dachte, war sein Sohn, doch dieser war noch recht jung. Der König befürchtete, dass dieser nicht genügend Erfahrung für eine so schwere Aufgabe haben würde und wollte deshalb seine Klugheit auf die Probe stellen. Er liess ihn holen und wünschte, dass dieser ihm die beste Speise bereiten soll, die er könne. Der Sohn begab sich auf den Markt, schaute sich um und erwarb schliesslich eine Rindszunge. Zu Hause kochte er die Zunge, würzte sie und brachte sie dem König. Dieser kostete die Zunge und war zufrieden, noch nie hatte er so etwas Gutes gegessen. Er lobte seinen Sohn und sagte zu ihm: «Sag mir, warum du gerade eine Zunge gewählt hast.» «Mein Vater, du grosser Herrscher», antwortete der Sohn, «eine Zunge ist eine sehr wichtige Sache. Mit der Zunge kannst du eine gute Arbeit loben und jemandem danken, der eine gute Tat vollbracht hat. Mit der Zunge kannst du gute Nachrichten verkünden und die Menschen auf den rechten Weg führen.» «Alles, was du sagst, stimmt», sagte der Vater und dachte bei sich: Mein Sohn ist bereits ein sehr weiser Mann.
Doch der König beschloss, ihn noch einmal auf die Probe zu stellen und sprach zu ihm: «Du hast mir die beste Speise der Welt bereitet. Jetzt wünsche ich, dass du mir die schlechteste Speise bereitest, die du dir ausdenken kannst.» Der Sohn ging ein zweites Mal auf den Markt, blickte sich um und erwarb wieder eine Rindszunge. Er brachte sie nach Hause, bereitete sie zu und trug sie zu seinem Vater. Als der König auf der Platte erneut eine Zunge sah, wunderte er sich und sprach: «Zuerst hast du mir eine Zunge als beste Sache der Welt gebracht, jetzt bringst du sie mir als die schlechteste. Wie willst du mir das erklären, Sohn?» «Oh Vater», antwortete der Sohn, «eine Zunge ist eine sehr wichtige Sache. Mit der Zunge kannst du den Menschen zur Arbeit antreiben und seinen guten Ruf vernichten. Mit der Zunge kannst du den Menschen ins Verderben stossen und ihn um seinen Lebensunterhalt bringen.» Als das der alte König hörte, sagte er zu seinem Sohn: «Alles, was du sagst, ist wahr. Obwohl du jung bist, bist du ein sehr weiser Mann», und er legte die Herrschaft über das Reich in seine Hände.
Wirklich ein weiser Mann, dieser Königssohn! Seine Gedanken zur Zunge machen deutlich, was wir alle wohl jeden Tag auf die eine oder andere Art erfahren: Worte sind alles andere als Schall und Rauch. Sie haben eine grosse Macht über unser Leben, und die ist zwiespältig. Mit Worten kann man uns das Leben vermiesen. Wer immer nur gesagt bekommt: Du bist dumm, du bist nichts wert, hält das auf Dauer nicht aus. Deshalb sind wir Menschen unser ganzes Leben immer wieder auf der Suche nach anderen Menschen, nach Freunden, die mit oder ohne Worte sagen: Ich mag dich, du bist mir wichtig. Ohne solche Worte können wir nicht leben. Als Kind so wenig wie als Erwachsener. Das sind die Worte, von denen wir im wahrsten Sinne des Wortes leben, denn sie setzen Mut, Hoffnung und Lebensfreude frei. Sie sind wie ein Zuhause, in dem wir uns geborgen fühlen können. Deshalb sollten wir mit solchen Worten nicht sparen. Das ist mein Wunsch an alle Leserinnen und Leser von Land&Musig!
Stephan Haldemann
Pfarrer, Präsident Bernisch-Kantonaler Jodlerverband

24.11.2015
VON STEPHAN HADLEMANN