Bernhard «Beny» Betschart & Natur pur
Bei «The Voice of Switzerland» hat er Publikum und Juroren mitgerissen, als Mitsänger im «Bernheart Chor» erreichte er das Finale von «Kampf der Chöre», mit seiner Band «Black Creek» begeistert er Country & Rock-Music-Fans, im Projekt «Schluneggers Heimweh» feiert er grosse Erfolge und als Jodelkursleiter führt er ebenso begeisternd zurück zu den Wurzeln des Muotataler-Juuzens.
23.01.2017 | VON HANSPETER EGGENBERGER
Ein Naturjodel ist nicht etwa jener Jodel, der in der Natur gesungen wird, sondern jener, der von der Natur inspiriert worden ist. Jahrzehntelang versuchte man, den Naturjodel zu zähmen. Man schrieb vor, welche Vokale gesungen werden können. Man versuchte, ihn mit Hilfe der Notenschrift zu bändigen. Ähnliches hat unsere Gesellschaft auch mit der Natur gemacht und – all das in beiden Sachgebieten in bester Absicht – dabei vieles kanalisiert. Heute wissen wir, dass es ab und zu besser gewesen wäre, wenn man der Natur ihren Lauf gelassen hätte. Wie viel schöner ist doch ein natürlicher Bachlauf gegenüber einem betonierten Kanal! Wir haben das erkannt und folgerichtig zu erfolgreichen Renaturierungen gefunden. Ähnliches läuft nun Gott sei Dank auch in unserer Kultur. Was seit einigen Jahren in der Schweizer Musikwelt von Seiten der Volksmusik und des Jodelns abläuft, ist phänomenal. Damit meinen wir nicht etwa die immer wieder gerühmten Erfolge von Jungmusikanten, Nachwuchsjodlerinnen, Rekordbeteiligungen an Jodlerfesten und perfekte virtuose Ländlermusik. Nein! Damit meinen wir jene Bewegung, die quasi aus der Kraft der Musik selber entstanden ist. Sie hat nichts mit Verbandsregulativen, Musikkommissionen, richtiger oder falscher Gesangstechnik oder Hits aus der Hohezeit der Ländlermusik in den Nachkriegsjahren zu tun. Die oftmals als neue Volksmusik bezeichnete Welle orientiert sich nicht an der Virtuosität oder Eingängigkeit der Melodien, sondern daran, was Musik eigentlich ausmacht: Gefühl, Empfindung, Freude und dergleichen. Und das ist es, was den Rockmusiker, Countrysänger und Gitarristen Beny Betschart nach einer langen Reise durch andere Musikwelten zu seinen eigenen Wurzeln im Muotataler Naturjuuz zurückgeführt hat.
Leben im Bergheimet
Der am 29. März 1977 geborene Bernhard wuchs als jüngstes von sieben Kindern der Familie Betschart («Ds Lippschä») auf dem Bergbauernheimet Zinglen oberhalb der Ortschaft Muotathal auf. Zusammen mit seinen fünf Schwestern und einem Bruder erlebte er dort eine Kindheit, die von viel Nestwärme und der Arbeit auf dem Hof geprägt war. Ein Auto hatte die Familie nie. Sogar für den sonntäglichen Kirchenbesuch diente der «Schilter». An den steilen Hängen wurde von Hand gemäht und das Heu eingetragen. Als Beny seine Schulzeit beendet hatte, kam eine Lehre nicht in Frage, denn seine Arbeitskraft war zuhause nötig. Erst im Alter von 23 Jahren absolvierte er die Ausbildung zum Strassenbauer und arbeitete anschliessend vorwiegend als Baumaschinenführer. Seit frühester Kindheit war aber auch die Musik ein wichtiger Begleiter. In freudigen Momenten und ganz einfach zum Zeitvertreib wurde im Muotatal schon immer «gjuuzet». Die ganz besondere Jodelart der Bevölkerung im abgeschlossenen Bergtal bekam Beny ganz automatisch und auch ohne besondere Wertung mit. Mit seinen Geschwistern und Eltern sang er nicht nur zuhause. Seine Mutter hatte bereits einschlägige Erfahrungen, waren doch das damals bekannte Jodeltrio Geschwister Heinzer aus Illgau ihre Tanten. «Es waren besonders in Illgau die Frauen, die den Naturjuuz weiter trugen», erklärt Beny. Schon als Fünfjähriger hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt mit der Familie. In den Jahren 1983 und 1984 spielte die Familie Betschart in Dokumentarfilmen über das Juuzen von Hugo Zemp mit und es kam auch zu einem Auftritt im Sonntagsmagazin des Schweizer Fernsehens. Die einfache Lebensart auf Zinglen, das gemeinsame Arbeiten und das Juuzen bei freudigen Momenten haben Beny Betschart geprägt. Er sah darin damals keinen besonderen Wert, denn es war einfach Teil seines gewöhnlichen Lebens. «Dass ich auf diese Weise die traditionelle Lebensart der Bergbauern und ihre Kultur persönlich erleben konnte, betrachte ich heute als ein wertvolles Geschenk. Ich verstehe das Denken der Muotataler und weiss, wovon die alten Leute sprechen, wenn sie von ihren Leben in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts reden!»
Schon immer gefielen Beny vor allem die mehrstimmig gesungenen Popsongs der damaligen Hitparadenstürmer. Die Rockmusik, auch jene der etwas härteren Gangart, hatte es ihm angetan. So wollte er auch sein. Er erlernte das Spiel auf der Gitarre und liess sich die Haare wachsen. Da seine Geschwister langsam aus dem Elternhaus auszogen, wurden die Auftritte Mitte der 1990er-Jahre eingestellt. 2005 trat Beny erstmals als Gastsänger in einer Rockband auf. Schon bald entstand dann die «One Night Band», in der er der Leadsänger war. 2007 gründete er mit Musikkollegen die Rock’n Roll Band «Beny and the Losers». So immer tiefer in die Materie eingetaucht, wollte er es dann richtig wissen. «Es nahm mich einfach Wunder, wie und wo die Exponenten der amerikanischen Musik lebten, woher sie ihre Inspiration nahmen», erklärt er den Umstand, dass er 2007 für sechs Monate nach Kanada und den USA reiste. Besonders während seinem Sprachaufenthalt in San Francisco sammelte er zusätzliche Erfahrungen in der Musik als Mitglied des bekannten Gospel-Chors «Glide». Nach nur einem kurzen Aufenthalt in der Heimat zog es ihn 2008 erneut ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Im Ursprungsland des Country, Rock und Blues zu leben und zu arbeiten – er arbeitete je ein halbes Jahr lang in Québec und British Columbia – war für ihn eine wichtige Erfahrung und für sein musisches Wirken inspirierend.
Der Blues der Bergler
Wieder zuhause im Muotatal hatte er ein wegweisendes Erlebnis. Mit einem Kollegen aus früheren Zeiten, der selber ein Älpler ist und die Muotataler Traditionen kannte und lebt, ging er in den Ausgang. Mit ihm zusammen entdeckte er das freie Juuzen am Feierabend neu. Es war nicht die Erinnerung an seine Kindeszeit in der Familie, die ihn tief trafen. Vielmehr erkannte er, dass darin ähnliche Empfindungen zu spüren waren, wie er sie bei Bluessängern mitbekommen hatte. «Der Muotataler Naturjuuz ist quasi der Blues der Bergler!» Wie er es in Amerika gemacht hatte, ging er fortan auch in seiner Heimat dem Juuz auf den Grund. Zuhause entdeckte er das Tonbandgerät seiner Mutter neu, mit welchem sie diverse Melodien festgehalten hatte. Die Filme von Hugo Zemp, bei denen er selber als Kind zu sehen ist, bekamen eine ganz neue Bedeutung. Wenn er mit den älteren Bauern und Sennen über das Juuzen redete oder mit ihnen selber juuzte, verstand er den tiefen Hintergrund. Nicht die Melodien allein, sondern das Ausüben dieser Sangesart verbunden mit dem Zeitpunkt und dem Ort hat etwas Archaisches, eine Verbindung über Generationen zurück.
Es war nicht vorgesehen, dass Beny dereinst derjenige sein wird, der die besondere Gesangstechnik der Muotataler in alle Welt tragen würde. Ihm selber ging es lediglich um ein persönliches Interesse und die Freude, mit seinem Kollegen am Wirtshaustisch die alten Lieder und Juuze zu singen. «Ds Heiris Kürtl», der mit «Ds Schmids Geri», «Ds Hebamms Dänl», «Ds Wiäzeners Heinz», «Ds Heiris Chrigl» und eben «Ds Lippschä Beny» in der Runde sang, hatte die Idee, diese ganz besonderen Momente auf einer CD festzuhalten. Die Gruppe bekam den Namen «Natur pur» und auf die CD, die mittlerweile in zweiter Auflage vorliegt, wurden 30 Titel mit einfachsten Mitteln und ohne Tonstudio aufgenommen. Die Männer hatten wenig Ahnung von der Herkunft ihrer Lieder. Das interessierte sie auch in keiner Weise. Es ging ihnen auch nicht darum, ein historisches Dokument aus der Muotataler Tradition zu erstellen, sondern einfach das festzuhalten, was sie selber erfreute. Deshalb sind im Programm «alte Schinken» wie «Wir sind Männer vom Gebirg», «Wie die Blümlein draussen zittern», «Es war einmal ein treuer Husar» und einige dergleichen mehr zu hören. Dazwischen aber immer auch Muotataler Jüüzli, die teilweise nicht einmal Namen hatten. Die so dokumentierte Natürlichkeit und das authentische Jodeln fand nicht nur beim Publikum, sondern ganz besonders bei kulturell interessierten und engagierten Leuten ausserhalb des Tals Beachtung. Ohnehin war auf der ganzen Welt das Verlangen nach akustischer Musik ohne elektronische Hilfe – Stichwort «unplugged» – erwacht und in diese Bewegung passt «Natur pur» exakt. Die Sache entwickelte sich weiter. Der Musiker erkannte, dass ein Verlangen nach mehr Wissen über den Muotataler Naturjuuz vorhanden ist und so wurde Beny Betschart schliesslich zum begehrten Kursleiter für diese Sparte. Er merkte, dass er nicht nur das bekannte Alphorn-Fa natürlich singen kann, sondern auch die anderen typischen Abweichungen von der wohltemperierten Stimmung. So wendet er beispielsweise auch die neutrale Terz ganz automatisch an, sobald er ein entsprechend archaisches Jüüzli aus dem Tal singt. Dass Beny auch ein charismatischer Erzähler ist, kommt ihm in seinen Kursen sehr entgegen. Die Mischung machts aus: Er hat tiefe Wurzeln in der Tradition und lebt gleichzeitig ein modernes Leben.
Überall gefragt
«Das meiste in meinem derzeitigen Leben war nicht geplant. Es war einfach das Ergreifen von sich ergebenden Gelegenheiten», erklärt Beny. Dass dazu aber auch noch eine zünftige Portion Talent nötig war, verschweigt der sympathische Musiker. Ein Blick in die lange Liste der Auftritte und Workshops auf seiner Website gibt einen klärenden Eindruck. Da stehen ein Naturjuuz-Einführungskurs im Fraunhofer Theater München, ein Wochenende mit Juuzen und Wandern im Muotatal, ein Auftritt mit Natur pur und dem Echo vom Schattenhalb (Beny spielt dort Bassgeige) am Ländlertreffen in Hundwil oder im Volkshaus Zürich, ein Naturjuuz-Aufbaukurs im Da-Sein-Atelier Ottoberg im Thurgau, ein Intensiv-Workshop in Berlin oder ein Fortgeschrittenenkurs für Juuzen und Chlefelen in Mogelsberg. Dass sich in Deutschland verschiedene Gruppierungen und Gesangslehrerinnen mit dem Jodel befassen, dass es beispielsweise den Jodelchor «urban yodeling» oder das Jodeltrio «la vache qui crie» gibt, die unter anderem Muotataler Jüüzli singen, gibt einen Eindruck über die Grenzenlosigkeit und schliesslich auch die Bedeutung des Muotataler Jodelns. Das wurde mittlerweile auch im Tal selber festgestellt. Beny führt auch dort als Kursleiter Interessierte in die Materie ein. Er lebt als Single in einer modernen Wohnung mit traumhafter Aussicht in Illgau. Sein Leben bestreitet er inzwischen zu 80 Prozent mit der Musik. Den Rest holt er sich als Teilzeitarbeiter bei einer Dachdeckerfirma im Ort oder als Hilfe im Sportgeschäft seines Schwagers und seiner Schwester auf dem Stoos, und noch ganz selten als Baggerführer in seinem gelernten Beruf. Seinen früher oft gespürten Reisedrang befriedigt er mit den Reisen zu Auftritten im ganzen Europa.
Schrägers & Gräders
Die beiden Formationen Natur pur und das Echo vom Schattenhalb präsentieren jetzt eine neue CD unter dem Titel «Schrägers & Gräders us äm Muotatal». Mit 9 Naturjüüzli und 17 Tänzli unterhalten sie nicht nur das «Unplugged-Publikum», sondern geben auch weitere Einblicke in ihre gelebte Tradition. Wenn sie sich bei diesem Projekt jetzt auch die aktuelle Tontechnik im Studio zunutze gemacht haben, ist der Sound bewusst «stubenhaft» gehalten. Im Gegensatz zur ersten CD hat das Echo vom Schattenhalb jetzt den Hauptpart. Dazu ist im CD-Begleittext zu lesen: «Ähnlich wie beim Muotataler Naturjuuz verhält es sich auch bei der Örgelimusik. Im Zuge der Mobilität und Vermischung der unterschiedlichsten Stile gibt es nur noch wenige Musikanten, die diese archaische, sowohl kantige wie lüpfige Art auf dem Schwyzerörgeli zu musizieren pflegen. So ist die Muotataler Schwyzerörgelimusik ein eigenes Universum. So kantig sie erklingen kann, so rund und lüpfig sind die kurzen und mit einem ganz speziellen ‹Zwick› gespielten Stücke. Spielerische Eigenheiten wie die für viele Zuhörer unerklärlichen ‹Taktfehler› oder die raue und wieder feine Intonation gehören zum Markenzeichen des Echo vom Schattenhalb. Dies alles kombiniert mit der hohen Musikalität, der Traditionsverbundenheit und dem Respekt gegenüber den alten Interpreten machen den Klang und die Musik dieser Formation so einzigartig.»
Sicher wird dieser Tonträger weiter dazu beitragen, dass die Eigenheit der Muotataler Musik als ein Bijou in der helvetischen Jodler- und Volksmusikwelt auch in unserem Land erkannt wird. Vielleicht entdeckt ja auch unsere derzeitig in Hochblüte stehende Kultur der Jodlerklubs und -verbände, dass unsere Musikgeschichte viel facettenreicher ist, als sie unsere künstlichen Regulative vorgaukeln. Leute wie «Ds Lippschä Beny» funktionieren diesbezüglich als Pioniere, die letztlich der Bewahrung und gleichzeitig Verbreitung unserer Traditionen sehr viel dienen.